Manchmal hat man das Gefühl, man könne es keine Sekunde mehr länger mit seinem Partner aushalten. Man findet, dass dieser Mensch der dümmste, unsensibelste, egoistischste, nachlässigste, vernageltste und unattraktivste Mensch des ganzen Universums ist und fragt sich, wie man an dieser Person auch nur jemals einen Deut Interesse haben konnte.
Genauso ergeht es einem zuweilen bei der Arbeit (mir jedenfalls). Man findet, dass man die sinnloseste, ödeste, uneffektivste, einschläferndste, stupideste und schlechtbezahlteste Arbeit der ganzen Welt verrichtet und fragt sich, wofür man sich all die Jahre auf der Schule, bei der Ausbildung oder an der Uni abgequält hat. Nur um derartig würdelos vor ich hin zu rotten?
Wenn ich so denke und fühle und ich am Liebsten meine Koffer packen und auf Nimmerwidersehen verschwinden möchte, den blöden Partner mit seinen blöden Angewohnheiten, die blöden Kollegen mit ihren blöden Gesichtern und überhaupt diese ganze blöde Stadt ein für alle mal los sein möchte … dann hole ich mir eines meiner Lieblingsbücher aus dem Regal. Es heißt: „Die Kuh, die weinte“. Kein besonders ansprechender Titel, ich weiß. Aber wie so oft im Leben täuscht der erste Eindruck.
“Don’t judge a book by its cover!“
In diesem Buch erzählt der Engländer Ajahn Brahm, der als buddhistischer Mönch in der Tradition der Waldmönche in Australien, Singapur und Malaysia lebte, auf höchst amüsante Art und Weise in kurzen Geschichten vom ganz normalen Wahnsinn seines ganz normalen Lebens. Ajahn Brahm muss stupideste Arbeiten in ekelhaft-schwül warmer Luft verrichten, auf einem Bett, nein- einem Türblatt ohne Matratze, dafür aber mit einem Loch und ausgeprägten Schnitzereien schlafen, wird Nachts von Mücken aufgefressen, von Schlangen belästigt, von Zahnschmerzen inmitten der Wildnis und ohne Paracetamol bis zur Besinnungslosigkeit gequält und begegnet dabei der selben Vielzahl von Emotionen, mit denen auch wir täglich zu kämpfen haben.
Eine meiner Lieblingsgeschichten ist die, in der Ajahn Brahm eine Mauer errichten soll:
Eines Tages erhält Ajahn Brahm von seinem Meister die Aufgabe, rund um das Kloster herum, eine Mauer aus Backsteinen zu bauen. Ajahn Brahm, der in seinem Leben noch nie eine einzige Mauer gebaut hat, macht sich mit Feuereifer ans Werk, schafft Stein für Stein herbei, rührt Mörtel und Zement an und beginnt, Stein für Stein, Reihe für Reihe aufeinander zu bauen.
Während des Bauprozesses stellt er fest, wie schwierig es ist, eine gute und gerade Mauer zu errichten. Kaum sind die Backsteine auf dem Zement, quillt dieser an der Seite raus, die Steine verrutschen, Teile der Mauer stürzen ein usw. usf.
Trotzdem bleibt Ajahn Brahm unbeirrbar bei der Sache. Als die Steinmauer endlich fertig ist und Ajahn Brahm zufrieden sein Werk begutachtet, stellt er fest, dass in der schönen Mauer zwei Steine schrecklich schief herausragen und das ästhetische Gesamtbild der Mauer erheblich stören.
Wütend darüber will Ajahn Brahm die Steine in die Mauer zurückdrängen, doch der Zement ist in der Zwischenzeit ausgehärtet und die Steine sitzen bombenfest. Er stürmt zu seinem Meister und bittet ihn darum, die Mauer einreißen und neu errichten zu dürfen, doch der Meister untersagt ihm das. Die Mauer bleibt stehen!
Eine weitere Aufgabe Ajahn Brahms ist es, die Klosterführungen zu leiten. Nun muss er jeden Tag Besucher an dieser verschandelten Mauer vorbeiführen und sobald ihm die zwei Steine begegnen, beschleunigt er seine Schritte und führt die Menschen doppelt so schnell vorbei, damit sie bloß nicht die verhunzte Mauer bemerken.
Eines Tages kommt ein Mann, der sehr lange an der Mauer stehenbleibt und sie eindringlich betrachtet. Ajahn Brahm will ihn weiterzerren, er drängt ihn, sich doch den Rest der Anlage anzusehen. Doch der Mann bleibt stehen und sagt: „Nein, ich möchte noch einen Augenblick diese schöne Mauer betrachten.“
„Diese schöne Mauer?“ entgegnet Ajahn Brahm aufgebracht, „entschuldigen Sie bitte, aber sind Sie blind? Wie können Sie diese verdorbene Mauer als schön bezeichnen. SEHEN SIE DENN NICHT DIESE FURCHTBAREN STEINE???“
„Doch“, sagt der Mann seelenruhig. „Ich sehe durchaus diese zwei schiefen Steine– aber ich sehe auch 998 gerade Steine und deswegen ist die Mauer schön.“
In diesem Augenblick geht Ajahn Brahm ein Licht auf, er tritt einige Meter zurück, betrachtet die Mauer als Ganzes und findet plötzlich auch: „Für jemanden, der noch nie gemauert hat, ist sie wirklich gar nicht schlecht.“
In diesem Moment läuft mir meistens ein Schauer über den Rücken und ich klappe das Buch zu. Ich blicke mich in meiner viel zu kleinen, viel zu dunklen, viel zu vollen Wohnung um und denke: Och, eigentlich doch gar nicht so übel die Bude…
Und einige Momente später wende ich diese Betrachtung auch auf meinen Partner an und denke ein ganz kleines bisschen weniger, dass er der blödeste, unsensibelste usw. Mensch der ganzen Welt ist.
Wenn man nämlich nur auf die zwei schiefen Backsteine des Partners blickt, übersieht man „das große Ganze“, die „ganze Mauer“, die oft aus 998 guten und 2 schlechten Steinen besteht. Man verliert das Abenteuer Partnerschaft, das Abenteuer Familie, die Ups und Downs der Karriere und sein Lebenswerk aus dem Blick, starrt nur auf die Fehler und Probleme und vergisst, dass man ja noch nie zuvor gemauert hat und es dafür eigentlich doch ganz gut macht….
Natürlich soll niemand in einer dauerhaft unglücklichen und permanent miesen Arbeit verharren, das ist ganz klar. Manchmal ist es besser, die Mauer einzureißen. Aber oft blähen sich kleine Steine zu riesigen Blasen auf und zerstören etwas im Grunde gutes…
Ajahn Brahm. Die Kuh, die weinte. Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück. Lotos Verlag. 2013.
Ein sehr guter Gedankenanstoß, vielen Dank für den “Anstupser” …
Liebe Sonja Schulz,
vielen Dank für Deinen Kommentar! Ja,auch ich lese immer wieder regelmäßig in meinem schlauen Buch “Die Kuh, die weinte” (ich weiß, der Titel ist gewöhnungsbedürftig), wenn ich das Gefühl habe, mal wieder einen “Anstupser” gebrauchen zu können. Es tut gut, sich Dinge immer mal wieder mit ein bisschen Abstand oder aus einer anderen Perspektive anzuschauen. Und plötzlich ist manches gar nicht mehr so übel, wie noch zuvor gedacht… Alles Liebe, Isabel