Assoziative Arrangements: ich sehe was, was du nicht siehst

Idole

Dass Menschen nicht nur sehr verschieden aussehen, sondern dass sie die sie umgebende Umwelt auch völlig unterschiedlich wahrnehmen ist hinlänglich bekannt. Sich dieser Tatsache allerdings wirklich bewusst zu werden, ist eine völlig andere Sache.

Während meiner Begegnungen mit Menschen auf der ganzen Welt haben wir einander schon des Öfteren kopfschüttelnd- erstaunt betrachtet:

„Du hast vier Kinder mit deinem Mann und ihr wohnt nicht zusammen, obwohl ihr euch liebt?“ Fragt mich die Großmutter aus dem tibetischen Kulturkreis in Ladakh „Das ist interessant!“

Ich blicke erstaunt zurück: „Du bist mit zwei Männern gleichzeitig verheiratet, ihr wohnt zusammen und das ist bei Euch völlig selbstverständlich? Das ist interessant.“

Diskussionskultur

Als Ethnologin weiß ich um die unglaubliche Vielfalt menschlicher Beziehungsformen (z.B. Vielehe, Besuchsehe) und bin fasziniert davon, wie unterschiedlich soziales Miteinander gelebt wird. Jedes Individuum scheint die Welt anders wahrzunehmen. Für jedes Individuum scheint die eigene Sichtweise die Richtige zu sein. Dass sich diese Wahrnehmung auch in meiner derzeitigen Kunstspielerei Assoziative Arrangements – oder: ich sehe was, was du nicht siehst so deutlich widerspiegelt, hat mich dennoch überrascht.

„Ich sehe eine Hand.“ Erstaunen meinerseits. Mehr nicht? „Nein. Eine Hand und eine Wäscheklammer.“ Fast schon beleidigt benenne ich das Bild: „Es heißt Idole.“ Bei der Installation der Hand und der Wäscheklammer dachte ich an erschöpft zusammenbrechende Feuerwehrmänner oder an Konsument:innen, die -wie ich- Chanel Lippenstifte anbeten.

Ich sehe was, was du nicht siehst! fasziniert mich, weil es alltägliche Gegenstände aus ihrem Kontext reißt, sie assoziativ neu zusammensetzt und diese Gedanken durch Benennung dem Betrachter verständlich zu machen sucht. „Was du alles siehst!“ -Ausrufe lassen mich zweifeln und reflektieren. Sehen die anderen etwa nicht, was ich sehe? Es ist doch überdeutlich!

Arbeiter:innen

Aus dem Erstaunen über die vermeintliche „Blindheit“ der anderen für die Sichtweise meiner Welt erwächst wieder einmal das Verständnis darüber, dass jeder von uns meint, die Welt und seine Phänomene ganz klar zu sehen und zu verstehen.

Eine Position, aus der es sich schnell ereifern lässt, aus der sich Fronten und Rechthaberei bilden. Die Installationen sind kurze Momentaufnahmen einer sich permanent veränderten vermeintlichen Realität. Sie sind unbeständig, so wie alle Phänomene und zeigen meine Gedanken über Missstände („Arbeiter:innen“), Einsamkeit („Warten“), Macht („Balance“), Vergänglichkeit („Küss mich schnell, ein letztes Mal“), Partnerschaft („Harmonie“), die Freude, die aus der Kreativität entspringt („Freude“) und vieles mehr auf.

Nachdem dieser Gedanke bildhaft ausgedrückt wurde, kehren die Bestandteile an ihren Ursprungsort zurück- und es bleibt nichts zurück, als eine Momentaufnahme. Auch diese Auflösung fasziniert mich – eine mahnende Erinnerung an meine eigene Vergänglichkeit, der ich mich so gerne widersetzen würde!

Küss mich schnell- ein letztes Mal!

Entstanden ist diese Kunst-Spielerei Assoziative Arrangements – oder: ich sehe was, was du nicht siehst aus einem geschenkten Kasten voller alter Stempel. Diese eindrucksvollen Symbole der Macht beobachte ich schon mein ganzes Leben lang: Stempel öffnen und verschließen, heißen willkommen oder lehnen ab und sind als Zeichen von Institutionen Objekte von Raub und Fälschung.

Flink- digitale Tagelöhner

Stempel sind Beschleuniger in Arbeitsprozessen und zeigen auf, in welchem Stadium sich der Vorgang gerade befindet. Sie bilden Identitäten und institutionalisierte, manifest gewordene Kompetenzen ab: Doktor, Diplom-Ingenieur, wissenschaftlicher Assistent, bestanden, durchgefallen usw. geradezu „Stempelkeitshörig“ starren wir auf das königsblaue Abzeichen der Autorität, welches jedes Dokument echter und wertiger zu machen scheint.

Dabei könnten wir uns selbst inzwischen jegliche Stempel anfertigen lassen und uns somit in ähnlich machtvolle Position hineinfantasieren! Stempel sind und waren Zeichen der Macht. Und doch sind auch sie vergänglich.

Nun, im Jahre 2021 (nach unserer Zeitrechnung) angekommen werden wir Zeugen, wie sich diese machtvollen Gegenstände im Zuge der Digitalisierung ins Nichts aufzulösen beginnen und in Zukunft vielleicht bloß noch als Objekte der Kreativität und der Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Realität in Erscheinung treten werden?

Freude

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