….seit 12 Jahren arbeite ich nun schon im Museum für Völkerkunde Hamburg in dessen Foyer über dem Durchgang zum Großen Hörsaal in Messingbuchstaben folgender Spruch angebracht ist:
“Der Mensch ist ungleich, ungleich sind die Stunden.”
12 Jahre lang bin ich unter diesem Spruch hindurchgegangen, habe ihn gelesen und gleich wieder vergessen, da er für mich keine Bedeutung hatte. Ich dachte, es wäre nur ein weiterer schlauer Spruch, der das schlaue Museum noch schlauer erscheinen lassen sollte. Christian Morgenstern hat es ganz richtig erkannt:
“Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.”
Genauso war es bei mir auch! Dieser Ausspruch „Der Mensch ist ungleich-ungleich sind die Stunden“ (von Goethe übrigens 😉 hat für mich von einem Moment auf den anderen eine sehr tiefe Bedeutung bekommen über die ich immer noch nachdenke. Und das kam so: Ich kam an einem gewöhnlichen Abend nach Hause und in unsere Küche- ein einziger Saustall. Zur Rede gestellt antwortete mein Freund: „Ich weiß gar nicht , was Du hast, die Küche ist doch tiptop sauber.“ Woraufhin ich mit einer Stimmlage von drei Oktaven höher fragte: „Wie bitte? Diese Küche soll sauber sein? Sie steht geradezu vor Dreck.“
Den Rest des sich daraus ergebenden Ehestreites erspare ich Ihnen (das kennt ja jeder nur zu gut aus seiner eigenen Partnerschaft).
An diesem Abend aber hatte ich aber eine Abendveranstaltung im Museum, zu der ich -immer noch wütend- hinstapfte. Ich dachte ununterbrochen: „Wie kann es sein, dass zwei Menschen über ein und dieselbe Sache so unterschiedlicher Auffassung sein können? Es ist doch wohl völlig klar. DIESE KÜCHE IST EIN SAUSTALL UND NICHT TIPTOP.
Und dann las ich Goethes Spruch im Foyer des Museums: Der Mensch ist ungleich und hatte plötzlich eine Mini-Erleuchtung. Ich wusste nun, was der Spruch zu bedeuten hatte.
Der Mensch ist ungleich bedeutet, dass tatsächlich alle Menschen ungleich sind. Nicht nur in Hinsicht auf ihr Äußeres (jeder Mensch ist einzigartig, sieht vollkommen anders aus als der nächste) sondern auch in Bezug auf ihr Inneres ist Der Mensch ungleich:
Denn jeder Mensch sieht die Welt vollkommen anders. Was für den einen sauber sein mag ist für den nächsten dreckig. (Küche = Saustall = tiptop).
Oder fragen Sie doch nur einmal zwei Leute in einen Raum nach der Raumtemperatur. Der eine wird ihnen sagen, es sei wahnsinnig heiß und der andere wird ihnen sagen, es sei furchtbar kalt.
Oder schauen Sie sich meine Schwester und mich an: Ich habe ihr vom weltbesten Film aller Zeiten vorgeschwärmt (Ein Engel im Winter, blöder Titel ich weiß, aber ein super Film, spannend, überraschend, wirklich berührend) und ihr sogar meine eigene DVD ausgeliehen- den Film aber nicht einmal 24 Stunden später mit einem vernichtenden Kopfschütteln zurückbekommen. (So einen blöden Film hätte sie ja noch nie gesehen, stinklangweilig, absolut vorhersehbar und kein bisschen packend).
Dieser geniale Film hatte ihr kein bisschen gefallen (und ihrem Freund auch nicht). Wir hingegen haben den Film bestimmt schon zehnmal gesehen und ich fand ihn jedesmal wieder phänomenal.
In Bezug auf das Museum hat dieses Zitat Der Mensch ist ungleich sogar noch sehr viel mehr Tragweite -und das ist der Grund, weswegen ihn unser erster Direktor Georg Thilenius auch hat anbringen lassen: Im Museum für Völkerkunde möchten wir die unterschiedlichsten Aspekte materieller Kultur und die Welt-Sicht der Menschen aus deren Perspektive zeigen.
Wir bemühen uns, die emische Sicht darzustellen. (Emisch= „mit den Augen eines Insiders“ versus die etische Sicht = „Beobachters von außen“). Aber ist das wirklich möglich?
Die unterschiedlichen Menschen denken und erleben die Welt völlig unterschiedlich: Einige Menschen zum Beispiel glauben, dass es Gott gibt. Andere Leute glauben, dass es keinen Gott gibt. Manche Menschen (auf Papua Neuguinea beispielsweise) meinen, dass es Geister gibt, andere wiederum (hier in Norddeutschland) streiten ab, dass es Geister gibt. Manche Menschen glauben fest an Magie, andere Menschen behaupten, das sei Humbug.
“Der Mensch ist ungleich und jeder erklärt sich die Welt anders.”
Im letzten Jahr ist während eines Fußballspiels in Hamburg plötzlich das schwere Fußballtor umgestürzt und hat einen kleinen Jungen unter sich begraben. Dieser Junge starb noch auf dem Fußballfeld. Warum war das geschehen? Wir sagen: Ein Unglück, Materialschwäche, technisches Versagen. Andere Menschen aus anderen Kulturen würden den Grund vielleicht ganz woanders sehen. Denn warum ist es ausgerechnet diesem Kind geschehen? Vorher waren schon hundert andere Kinder im Tor. War es sein Schicksal? War der „böse Blick“ im Spiel? Magie? Obwohl sich aber jeder die Welt anders erklärt, ist interessanterweise allen Kulturen eines gemeinsam:
Jede Kultur glaubt, ihre Sichtweise sei die richtige und entspräche der Wahrheit.
Während meiner Führungen durch die Ausstellungen des Museums erlebe ich diese sogenannte ethnozentristische Sichtweise sehr häufig:
Wenn ich z.B. davon erzähle, dass den Maoris, den Ureinwohner Neuseelands ihr Versammlungshaus Rauru als ein lebendiges Wesen, als Ahne gilt, schauen mich manche (westliche) Besucher recht skeptisch an, und fragen mich am Ende der Führung: „Sagen Sie mal, die glauben das doch nicht wirklich, dass dieses Haus lebt, oder?“
Und ich sage: „Doch, die Maoris glauben das wirklich!“ Für sie ist dies die Wahrheit.
Diese Nachfragen sind ein typisches Beispiel für die ethnozentristische Sichtweise und die feste Vorstellung, selbst im Inbegriff der Wahrheit zu sein. Nur weil wir in unserer Gesellschaft vereinbart haben, dass es keine Geister gibt, muss es noch lange nicht der endgültigen Wahrheit entsprechen. Es ist unsere gesellschaftliche Konvention, auf die wir uns geeinigt haben: „Es gibt keine Hexen, Geister, Dämonen etc.“
Da wir uns im Völkerkundekundemuseum aber darum bemühen, die jeweils andere Weltsicht der jeweils anderen Kultur darzustellen, müssen wir uns mit den Gedanken und Weltsichten anderer befassen und versuchen, uns für einen Augenblick aus unserer „ich-habe-aber-Recht-Pocherei“ zu lösen.
Der Mensch ist ungleich bedeutet folglich, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Auffassungen über das Leben, die Welt, Schmerz, Recht, Ethik und Moral haben und das jeder für sich -aus enthnologischer Sicht- Recht hat.
Doch was bedeutet das in der Konsequenz?
Der Gedanke „Jeder sieht die Welt wie es ihm gefällt, und jeder hat das volle Recht dazu“ birgt ja durchaus Probleme und Gefahren. Dürften folglich Mädchen Genital beschnitten werden, weil man das „in der Kultur als richtig empfindet“?
Wie weit darf man in seiner religiösen/politischen Überzeugung gehen? Ist er richtig, Unbeteiligte durch Bombenanschläge mit in den Tod zu reißen? Manche würden dies bejahen…
Es ist sehr heikel, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen, ohne sich auf seine letztlich arrogante „Ich sehe die Welt richtig und ihr seht sie falsch!“ Position zurückzuziehen oder sich in der Konsequenz in sehr gefährliche und radikale Fahrwasser hineinzubegeben.
Denn die Frage ist: Können wir die anderen Menschen und deren Handlungen wirklich objektiv beurteilen? Es ist aufgrund der Annahme Der Mensch ist ungleich sehr schwierig, Universalien zu finden, die für alle Menschen Gültigkeit besitzen.
Eventuell könnte man sich darauf einigen, dass:
– sich alle Wesen Glück wünschen und frei von körperlichem Schmerz und seelischer Qual leben möchten. Niemand – egal ob Mensch oder Tier- möchte Leid erfahren.
Wenn man diese Universalie akzeptiert und zudem alle Wesen als mit sich selbst als gleichwertig und gleichberechtigt ansieht, wird man automatisch davon Abstand nehmen, Handlungen zu vollziehen, die den anderen Wesen Schaden zufügen könnten.
Dann ist zwar nach wie vor Der Mensch ist ungleich, doch gewisse Handlungen, werden trotz der Ungleichheit nicht mehr vollzogen, weil sie der Universalie der Anerkennung von „körperlicher und seelischer Unversehrtheit“ widersprächen. Und das wäre eigentlich sehr heilsam für alle Beteiligten….
Übrigens, was bedeutet der zweite Teil des Spruches? … ungleich sind die Stunden.
Das verstehe ich so: Wenn man eine langweilige Führung erlebt, einen langweiligen Blogbeitrag liest, oder etwas anderes Ödes macht, zieht sich die Zeit wie ein Kaugummi dahin und wird endlos. Erlebt man hingegen etwas Spannendes vergeht die Zeit wie im Fluge.
In diesem Sinne: Kommt auf eine kurze Zeit ins Museum!
Pingback: Toleranz durch Ungleichheit | Isabel Lenuck – Tibetologin/ Ethnologin/ Kinderbuchautorin
Bezug nehmend auf den zweiten Teil könnte auch folgendes Zitat von Bedeutung sein:
Wenn man mit dem Mädchen, das man liebt, zwei Stunden zusammensitzt, denkt man, es ist nur eine Minute; wenn man aber nur eine Minute auf einem heißen Ofen sitzt, denkt man, es sind zwei Stunden – das ist die Relativität. (Albert Einstein)
Lieber Herrmann Meyer,
wie wahr, wie wahr. Die Zeit vergeht so seltsam- und immer entsprechend des Auges des Betrachters schnell oder langsam. Wie gut wäre es, wenn man es schaffte, sich von beiden Empfindungen nicht so stark involvieren zu lassen. Vielleicht ist der Mittelwert aus beiden extremen Empfindungen ganz angenehm?
Hm. Ein interessanter Beitrag, dem ich lange folgen konnte. Es ist aber dünnes Eis, auf dem du dich bewegst. Es sind alte, uralte philosophische Fragen, auf die es schon sehr ausführlich antworten gibt.
Die Überheblichkeit unserer Kultur ist sehr alt. Schon die Römer, Ägypter und Assyrer haben sie … gelebt. Durch zwei gigantische Katastrophen sind wir in Europa eines Besseres belehrt worden oder sollten es sein.
Was die Themaktik der Kulturen angeht, so ist es eine Frage der Zivilisation. Beschneidung ist nur eines von sehr, sehr vielen Themen. Blutrache, Feudalismus, Standesrecht, Medizin, Frauenrechte … uvm.
Kann man wirklich naturalistische Gesellschaften mit unserer Zivilisation vergleichen? Sollte man das? Während dort ein gelebter Geisterglaube Sinn macht und das Leben der Menschen bereichert, ist es in den Gebieten der monotheistischen Religionen gut, diese zu bezweifeln, ihrem Einfluss zurückzudrängen und die Menschen aus ihrer “selbstgemachten Unmündigkeit” zu befreien.
In Afrika gebiert der Hexenglaube viel Unheil und Unmenschlichkeit und verhindert eine gute, notwendige gesellschaftliche Entwicklung. Hier geht es weniger um Sichtweisen, sondern um das Erkennen der Konsequenzen von bestimmten Haltungen, Werten, Traditionen und Sichtweisen.
Also ist nicht die eigentliche Frage, was denn dahinter steht, hinter dem Küchenstreit? Er hat eine Geschichte, die vermutlich weit zurück in der Vergangenheit liegt. Vielleicht ist mit “sauberer Küche” eine sprachliche Indifferenz im Sinne von Ordnung oder in Relation zu etwas. Vielleicht geht es um Macht, Verletzungen, Absprachen. Es sind also manchmal nicht die Geister, die ich rief, sondern, was sie bedeuten, ihre Funktionen und welches Geschäft ich mit ihnen abgeschlossen habe.
Am Ende geht es immer um … die uralte Weisheit: Erkenne Dich selbst. Das ist, was den Menschem hilft, den Völkern, dem Frieden, der Gesundheit und der Sicherheit.
Lieber Papalapapi,
vielen Dank für Deinen ausführlichen und differenzierten Kommentar. Du hast Recht, es ist dünnes Eis und vor allem eine weite Eislandschaft, die ich da mit meinen Schlittschuhen befahren habe und das Wasser, auf dem das Eis schwimmt, ist sehr tief. Besonders am Ende meines Artikels habe ich mir viele Gedanken gemacht, wie ich eine elegante Kurve hinbekomme, ohne auf der Nase zu landen… Und natürlich kämpft ein Paar während des Küchenstreites immer auch um andere Themen… Auf jeden Fall danke für Deine Gedanken zu meinen Gedanken!
Liebe Isabel Lenuck, ich war neulich im Völkerkundemuseum und habe mir sehr lange Gedanken über den Spruch gemacht. Wir leben ja eigentlich in einer Welt, in der wir immer wieder unterstreichen, dass alle Menschen gleich sind. Danke für Ihre Ausführungen. Da Sie im Museum arbeiten oder gearbeitet haben – könnten Sie mir vielleicht bitte sagen, welche Gottheit über dem Spruch abgebildet ist? Ist das Jupiter? Und die beiden anderen Figuren? Ich kann nirgends etwas dazu finden.
Herzlich
Kirsten Buchholzer
Moin Isabel,
mir fiel der Spruch direkt beim Betreten der Treppen in den Blick und ergab für mich seine Schlüssigkeit an diesem Ort. Schön, hier zu lesen, wie dort überhaupt hin kam. 🙂
Ich habe meine Gedanken zum Vers hier festgehalten: https://jesmh.de/frieden/warum-ich-ethnologie-studiere/
Lieber Johann,
entschuldige die späte Antwort, ich war einige Zeit auf anderen Wegen unterwegs… Danke für Deinen Kommentar und den Vers!
Alles Liebe-
Isabel