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Wieder einmal Herbst

Isabel Lenuck HerbstWieder einmal Herbst

Wenn die Tage kürzer, kälter und dunkler werden und die Sommerbräune allmählich verblasst, machen sich die großen und schweren Gedanken auf den Weg , klingeln an meiner Tür und setzen sich unübersehbar breit mitten in den Hauseingang:
„Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“ „Was ist der Sinn des Lebens?“ stellen sie sich nacheinander vor und lüften ihre Hüte.

Ich sehe sie nachdenklich an und überlege, ob ich jetzt tatsächlich Zeit und Lust habe, mich mit ihnen zu beschäftigen.

„Kommt mit, wir reden in der Küche weiter“, bitte ich sie nach kurzem Zögern seufzend herein. Am Küchentisch schneide ich Zwiebeln für das Abendessen und unterhalte mich nebenbei weiter.

„Verbrauchen große Gedanken mehr Gehirnvolumen als kleine?“ „Ist 42 der Sinn des Lebens?“ „Die Quersumme sechs ist es auf jeden Fall bestimmt für viele…“

„Was ist der Sinn des Lebens?“ frage ich meinen jüngsten Spross, der in seinem Laufstall spielt. „Sind es Kinder?“ Mein Nachkomme blickt mich konzentriert an. Macht es Kaka oder denkt es nach?

Es denkt nach, denn nun spricht es einen Vers von Khalil Gibran:

„Deine Kinder sind nicht Deine Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.“

Ich nicke den weisen Worten zustimmend zu und konzentriere mich wieder auf die Zwiebeln, damit ich mir nicht in die Finger schneide. Da sind sie wieder, diese großen und schweren Gedanken.

Isabel Lenuck HerbstWir wissen einfach nicht, was der Sinn des Lebens ist!
Manche denken an Kinder, manche an Reichtum, manche an Religion. Jeder sieht einen anderen Sinn im Leben, viele gar keinen –und dieser Gedanke ist vielleicht am Schwersten zu ertragen: Dass es keinen speziellen Sinn unseres Daseins gibt.

Außer, dass wir alle nach Glück suchen und uns mehr oder minder geschickt dabei anstellen. Dass wir vieles versuchen, häufig scheitern und trotzdem nicht aufgeben. Weil uns die Sehnsucht nach dem Leben an sich aufrechterhält. Weil unser Leben und das unserer Lieben das Kostbarste ist, was wir haben – unser wahrer Schatz, unser unermesslicher Reichtum. Die Lebensenergie, die Kreativität, unsere Freude am Sein sind enorme Ressourcen und unermesslicher Reichtum.

Doch häufig vergessen wir dieses Potential und suchen im Außen nach Befriedigung und Glück. Wir versuchen, durch materielle Güter unsere (vermeintliche) Leere aufzufüllen und wundern uns, warum das nicht funktioniert.

Ganz im Gegenteil! Die Jagd nach äußeren Objekten zur Befriedigung, das permanente Neukaufen (von China-Schrott-Waren) bringt nicht nur uns, sondern auch den Rest der Welt in große Schwierigkeiten. Denn damit wir uns alle immer wieder immer neue Gegenstände leisten können (jedes Jahr ein neues Handy…) , treten deren Anbieter in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf, an dessen Ende ausgebeutete und versklavte Tiere und Menschen stehen (siehe Fleischindustrie, Textilwirtschaft usw.).

Dabei geht es auch anders … Statt unreflektiert zu konsumieren, kann man auch einfach nur in der Sonne rumsitzen. Unser privilegiertes Leben in Frieden und Freiheit wertschätzen. Das Leben genießen. Dasein. Zuhören. Zusammensein. Qualitativ verbrachte Zeit, die (kaum) Geld kostet. Gemeinsames Erleben, das jenseits von Konsum ist. Spazierengehen. Auf den Spielplatz gehen. Das Wachsen durch wirkliche Nähe. Und das gegenseitige Trösten, da wir viel zu oft auf die wichtigen und essentiellen Gedanken keine Antwort wissen. „Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“ „Was ist der Sinn des Lebens?“

Isabel Lenuck HerbstMittlerweile ist die Suppe fertig und ich frage die großen und schweren Gedanken, ob sie noch zum Essen bleiben wollen. Doch diese verneinen, sie haben noch etwas zu erledigen. Sie nehmen ihre Hüte und Mäntel und gehen zur Haustür hinaus, um im Herbst weiter zu spazieren.